Ferdinand von Schirach „Terror“ - Ein ethisch moralisches Dilemma
Verfasst von Kalle Hasenberg
Oft werden ethische Fragen als sehr theoretisch und langweilig verkannt. Das Gegenteil könnte nicht zutreffender sein, entscheidend ist eine spannende und realitätsnahe Verpackung dieser Themen. Genau das macht Ferdinand von Schirach in seinem Drama „Terror“, welches 2016 im btb Verlag erschienen ist. Einzigartig macht das Theaterstück, dass nach jeder Aufführung die Zuschauer*innen über das Ende entscheiden dürfen. Zweifelsohne hat Ferdinand von Schirach mit dem Stück einen Nerv getroffen, inzwischen wurde es auf allen fünf Kontinenten in 29 Ländern aufgeführt. Und in einer entsprechenden Verfilmung von der ARD schauten ganze 6,88 Millionen Zuschauer*innen live zu. Ein weiterer Grund für den enormen Erfolg könnte Schirachs Biografie sein, nämlich ist Schirach von Beruf her studierter Jurist, bekannt geworden durch die Mauerschützenprozesse, unter anderem verteidigte er hier Günther Schabowsky. Er kennt sich also aus mit rechtlichen Fragen. In der Präsentation meiner GFS habe ich, bevor ich über den Inhalt gesprochen, meinen Mitschüler*innen eine Frage gestellt, nämlich „Kann man Menschenleben gegeneinander aufwiegen?“. Erwartungsgemäß würden die Meisten die Frage wohl verneinen, so auch der Deutschleistungskurs. Doch wie würden wir diese Frage in Extremsituationen beantworten? Hier stellt uns Ferdinand von Schirach auf die Probe.
Aber worum geht es jetzt eigentlich? Am Anfang des Stückes erfahren wir, dass ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Berlin nach München von Terroristen übernommen worden ist und diese planen, die Maschine in die voll besetzte Allianz Arena zu stürzen. Im Flugzeug befinden sich 164 Menschen, in der Allianz Arena 70.000. Nachdem dem Kampfjet-Pilot der Bundeswehr, Lars Koch, von seinem Vorgesetzten mehrmals untersagt wird, das Flugzeug abzuschießen, empfindet er es letztendlich als seine Pflicht und letzten Ausweg, das Flugzeug abzuschießen. Alle Insassen sterben und Lars Koch wird verhaftet. Jetzt beginnt das Theaterstück erst richtig. Dem Zuschauer wird nun der Gerichtsprozess gezeigt, an dessen Ende entschieden werden soll, ob Lars Koch schuldig oder unschuldig ist. Über genau diese Frage darf das Publikum abstimmen. Sie werden dazu zu Schöffen, also Laienrichtern. Von nun an läuft es wie ein normaler Gerichtsprozess ab, es werden Zeugen gehört, der Angeklagte befragt und schlussendlich halten jeweils die Staatsanwältin und der Anwalt ihr Plädoyer. Es gibt zwei mögliche Sichtweisen: Einerseits von Lars Koch, der davon ausgeht, mit dem Abschuss der Passagier-Maschine das kleinere Übel gewählt zu haben. Aus seiner Perspektive wären aller Voraussicht nach die Menschen im Flugzeug sowieso gestorben; die Menschen im Stadion konnten durch sein Eingreifen gerettet werden. Andererseits argumentiert die Staatsanwältin, dass die Passagiere im Flugzeug Lars Koch genauso hilflos ausgeliefert gewesen seien wie den Terroristen. Er habe also nur kalt und quantitativ abgewogen, was die kleinere Gruppe gewesen sei und so 164 Menschen ermordet. Mit endgültiger Sicherheit könne man darüber hinaus nicht wissen, ob die Terroristen wirklich ihr Ziel erreicht hätten. Im Verlauf des Gerichtsprozess erhält der Zuschauer weitere, für die Urteilsfindung relevante Informationen. Beispielsweise berichtet die Frau eines der Opfer im Flugzeug davon, dass Teile der Passagiere versuchen wollten die Terroristen auszuschalten, ähnlich wie es die Passagiere im dritten Flugzeug der Terroranschläge vom elften September 2001 in den USA versucht hatten. Der Vorgesetze von Lars Koch bringt vor Gericht vor, dass der Einsatzstab die Zeit für zu kurz gehalten habe, um das Stadion rechtzeitig und ohne Panik auszulösen zu räumen. Mit dieser Entscheidung sei Lars Koch folglich die letzte Person gewesen, die von außen hätte eingreifen können. Bei dieser Befragung gibt der Vorgesetzte auch zu, dass ihm bewusst gewesen sei, dass die Option bestünde, dass Lars Koch das Flugzeug trotz gegenteiligem Befehl abschießen würde, da ein Großteil der Piloten dies tun würde. Kampfjet-Piloten würden für entsprechende Einsätze auch danach ausgewählt werden. Um zu wissen, warum der fiktive Vorgesetzte davon ausgeht, braucht man etwas Hintergrundwissen. Als Reaktion auf den Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001, wo zum ersten Mal Flugzeuge als Waffe missbraucht wurde, verabschiedete die Bundesregierung 2005 das Luftsicherheitsgesetz. In dem Gesetz stand, dass im Falle einer Übernahme eines Flugzeuges durch Terroristen der Verteidigungsminister über einen Abschuss entscheiden dürfe. Bereits 2006 wurde dieser Abschnitt vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungskonform eingeschätzt, weil er gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstoße: „Die Menschenwürde ist unantastbar.“ Allerdings wurde beschlossen, dass man ein Flugzeug, in dem ausschließlich Terroristen seien, abschießen dürfe, um größeren Schaden abzuwenden. Dieses eindeutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bedeutet allerdings nicht, dass Lars Koch automatisch schuldig zu sprechen ist. Hier gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen unter den Jurist*innen.
Lars Koch – Schuldspruch oder Freispruch? Deswegen habe ich natürlich wieder meine Mitschüler*innen befragt und nahezu alle haben den fiktiven Kampfjet-Piloten Lars Koch freigesprochen. Tatsächlich wurde Lars Koch auch in nahezu allen Ländern, wo das TV-Format ausgestrahlt wurde, immer für unschuldig befunden. Das einzige Land, welches mehrheitlich für eine Verurteilung gestimmt hat, ist Japan. Allerdings müssen alle, die für einen Freispruch sind, auch feststellen, dass für sie die Regel, man könne Menschenleben nicht gegeneinander aufwiegen, nicht uneingeschränkt gelte oder sie zumindest in dieser Situation vor einem moralisch ethischen Dilemma stehen, welches extrem schwierig aufzulösen ist.
Mein Fazit Für mich persönlich gehört Lars Koch vor allem aus zwei Gründen verurteilt: Zuallererst hat Lars Koch Selbstjustiz geübt, was der Rechtsstaat verbiete. Außerdem hat er gegen den ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten gehandelt. Würde dies ungestraft bleiben, entstünde ein gefährlicher Präzedenzfall. Sollte jeder Soldat oder jede Soldatin jeden Befehl hinterfragen können und im Zweifelsfall mit gefährlichen Waffen eigenständig handeln, könnte das die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr infrage stellen. Noch viel wichtiger ist meiner Meinung nach, dass wir damit unser Grundgesetz und den wichtigsten Artikel darin angreifen. Niemand darf darüber entscheiden, ob ein Leben lebenswert ist oder darüber entscheiden, wann er es beenden kann. Dies würde stark dem Nationalsozialismus ähneln, wo zum Beispiel Leben von behinderten Menschen als weniger wert angesehen wurden. Die Folge war dann die Euthanasie. Schlussendlich sollte wohl jeder/jede Einzelne sich seine eigene Meinung bilden und genau das tun, was Ferdinand von Schirach erreichen wollte, nämlich sich mit so schwierigen ethischen Fragen zu beschäftigen und mit anderen darüber zu diskutieren.

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