Chancengerechtigkeit

„Abitur 2023“. Vor fast 16 Jahren trug einer meiner Strampelanzüge diese Aufschrift. Wahrscheinlich war es damals mehr als eine Art Witz gemeint, aber die Chancen, dass ich in zwei Jahren mein Abitur bestehen werde, stehen tatsächlich ziemlich gut. Der Strampler zeigt, dass es schon kurz nach meiner Geburt keine wirklichen Zweifel daran gegeben hat. Da ich als Säugling selbstverständlich noch nicht sprechen konnte, war der einzige Anhaltspunkt für diese Vermutung meine Familie. Meine Eltern sind beide Akademiker mit einem ziemlich hohen Gehalt. Außerdem haben sie keinen Migrationshintergrund. Ich hatte also die perfekten Startbedingungen und das Abitur war mir so gut wie sicher. Leider heißt das im Umkehrschluss, dass Kinder in eine ärmere, Nichtakademikerfamilie oder in eine Familie mit Migrationshintergrund hineingeboren werden, keine so unbeschwerte Zukunft wie ich vor sich haben. Doch wie steht es in Deutschland wirklich um die Chancengleichheit? Und wie sehr sollte der Staat in das Schicksal der einzelnen Kinder eingreifen? Diese Fragen möchte ich im Folgenden erörtern. Eines der größten Kontra-Argumente gegen das Eingreifen Deutschlands in die Chancengerechtigkeit ist die Annahme, dass es nicht notwendig wäre. Einige Stimmen behaupten, dass es in Deutschland jede*r schaffen kann, solange man nur hart genug für seine Ziele arbeitet. „Das ist absolut möglich (…), mit so einer krassen Bevölkerungsdichte auf so engem Raum trotzdem deine Träume verwirklichen zu können, ist in Deutschland am besten.“, sagte der Rapper Massiv in der Diskussionsrunde „13 Fragen“¹. Er bezieht sich dabei auf den Vergleich mit anderen Ländern wie z.B. den USA, in denen es deutlich schwieriger sei, sozial aufzusteigen. Der Rapper Massiv ist einer derjenigen, denen der soziale Aufstieg geglückt ist. Neben ihm gibt es noch einige weitere Beispiele wie z.B. die ehemalige Tagesschausprecherin Linda Zervakis, die Jura-Studentin Julia Schmid und der Elitestudent Jeremias Thiel. Sie alle haben es geschafft, sich unabhängig von ihrer Familie zu entwickeln. Dabei haben ihnen vor allem ihr Fleiß, aber auch bereits bestehende finanzielle Hilfen wie z.B. Bafög und Stipendien zu ihrem Ziel verholfen. Solche Erfolgsgeschichten zeigen, dass der soziale Aufstieg in Deutschland sehr wohl möglich ist und keine weiteren staatlichen Maßnahmen nötig sind. Gegen diese Argumentation spricht, dass es sich bei den Aufsteiger*innen nur um Einzelfälle handelt. Viele Studien zeigen, wie unwahrscheinlich es ist, einen höheren Bildungsabschluss als die Eltern zu erreichen. Nichtakademikerkindern fehlt es oft an Vorbildern innerhalb der eigenen Familien, viele Eltern wissen auch nicht, wie sie ihr Kind fördernd erziehen sollen. Und für Eltern mit geringem Einkommen ist eine lange Schulzeit ihrer Kinder oftmals einfach zu teuer, sie sind sogar darauf angewiesen, dass sich diese ab der Ausbildungszeit finanziell am Familieneinkommen beteiligen. Aber auch wenn ein Nichtakademikerkind Abitur macht, gibt es deutliche Unterschiede: Etwa drei Viertel der Akademikerkinder studieren, während es bei den Nichtakademikerkindern nur ein Viertel ist. Ein weiteres Beispiel ist, dass nur 1% der Nichtakademikerkinder promoviert. Bei den Akademikerkindern sind es 10%².Dass der Aufstieg nur so selten gelingt, hat unterschiedliche Gründe. Es kann z.B. sehr schwer sein, ein Stipendium zu erhalten, vor allem, wenn es an Unterstützung von Seiten der Eltern fehlt. Außerdem sind die potenziellen Studienanfänger*innen oft nicht in der Lage, Bafög zu beantragen, da sich die Behördengänge meist kompliziert gestalten und sie Angst haben, sich zu verschulden³. Der breiten Masse bleibt der soziale Aufstieg aus den genannten Gründen also vorenthalten. Ein weiteres Kontra-Argument entsteht aus der Annahme, der Staat könnte die Chancengerechtigkeit nur mit einer Umverteilung des Geldes bekämpfen. Das Geld der reicheren Familien, wie z.B. Erbe, sollte also gleichmäßig auf alle Kinder verteilt werden. Daraus entsteht die Befürchtung, dass die Chancengerechtigkeit zulasten der Leistungsgerechtigkeit ginge. Vielen Eltern, die hart für die Zukunft ihrer eigenen Kinder arbeiten, würde ein Teil ihres Geldes weggenommen werden. Deshalb wäre die Leistungsgerechtigkeit nicht berücksichtigt. Außerdem befürchten Kritiker*innen, dass die Nichtakademikerfamilien das Geld nicht in die Bildung ihrer Kinder, sondern stattdessen in andere Dinge wie z.B. ein teures Auto investieren würden¹. Für die Umverteilung des Geldes durch die Staatshand spricht, dass kein Kind etwas für seine Familie und somit sein soziales Umfeld kann, in das es hineingeboren wurde. In dem Alter, in dem die finanzielle und mentale Unterstützung der Eltern beginnen sollte, gibt es noch keine fauleren bzw. fleißigeren Kinder. Deshalb sollten alle Kinder zumindest ähnliche finanzielle Startbedingungen haben. Trotz allem sind sich in einem Punkt viele Kritiker*innen und Befürworter*innen der staatlichen Eingriffe in die Chancengerechtigkeit einig: Mentale Unterstützung sei deutlich mehr wert als finanzielle. Ein gutes Beispiel für nicht-finanzielle Unterstützung für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien ist das in Nordrhein-Westfalen bereits bestehende Talentscouting-Programm. Bei diesem Programm werden Kinder aus sozial schwachen Familien, die das Potenzial zum Studieren haben, individuell betreut und gefördert. Es geht vor allem darum, eine Bezugsperson zu haben, die den Kindern zur Seite steht und den Rücken stärkt. Aber diese Coaches unterstützen die Schüler*innen auch bei konkreten Aufgaben wie z.B. dem Finden eines Praktikumsplatzes. Dadurch sollen die Schüler*innen nachhaltiger gefördert werden als mit einem finanziellen Beitrag. Bei der Debatte um Chancengerechtigkeit wird oft die Frage außen vor gelassen, was passiert, wenn allen der soziale Aufstieg gelingt. Kritiker*innen befürchten, dass es dann zu viele Akademiker*innen gäbe. Schon in der Gegenwart mangelt es oft an Auszubildenden und es ist von einem „Akademisierungswahn“ die Rede. Deshalb stellt sich durchaus die Frage, ob es überhaupt zielführend sei, jede*n zu fördernd, oder ob es vielleicht sinnvoller wäre, einen Teil der Gesellschaft bewusst „klein“ zu halten. Um dieses Argument zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, was Chancengleichheit grundlegend bedeutet. Es geht nicht darum, dass es jede*r an die Spitze der Gesellschaft schafft. Vielmehr soll das Ziel erreicht werden, dass jede*r die gleichen Startbedingungen hat, also finanziell und mental so unabhängig vom Elternhaus wie möglich ist. Jedes Kind, das das geistige Potential dazu hat, soll Abitur machen, studieren und Karriere machen können. Es gibt auch in einer Gesellschaft, in der die Chancengerechtigkeit zu 100% gewährleistet ist, noch eine Unter-, Mittel- und Oberschicht. Wichtig ist nur, dass diese Schichten nicht mehr vererbt werden. Zusammenfassend kann man der Frage, ob Deutschland mehr für die Chancengerechtigkeit tun sollte, also zustimmen. Es hat sich gezeigt, dass man in Deutschland zwar alles schaffen kann, die Wege zum Erfolg aber sehr unterschiedlich bzw. ungerecht sind. Deshalb sollte die Regierung vor allem auf Projekte wie das Talentscouting-Programm in Nordrhein-Westfalen setzen. Man sollte die Chancenungerechtigkeit mindestens so lange bekämpfen, bis „Abi-Strampelanzüge“ nur noch ein Gag und keine selbsterfüllende Prophezeiung mehr sind. Quellen: 1. Quelle: •https://youtu.be/bR_9VgwJBZ0 (29.5.2021) 2. Quelle: •www.nrw-talentzentrum.de (29.05.2021) 3. Quelle: •https://www.hinzundkunzt.de/wie-schafft-man-chancengleichheit/ (29.05.2021) Quellen, die mir zur Recherche gedient haben, die ich aber nicht direkt zitiert habe: •https://youtu.be/zLEVqnNneM0 (27.05.2021) •https://youtu.be/EMjS3l-SlBU (27.05.2021) •https://youtu.be/FO13Dp9RKAI (27.05.2021) •https://youtu.be/_s7jOXaFa7U (28.05.2021) •https://youtu.be/AJaem3aK7CI (28.05.2021) •https://m-faz-net.cdn.ampproject.org/v/s/m.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/chancengerechtigkeit-die-neue-klassengesellschaft-12204524.amp.html?amp_js_v=a6&_gsa=1&usqp=mq331AQHKAFQArABIA%3D%3D#aoh=16222744644189&referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com&_tf=Von%20%251%24s&share=https%3A%2F%2Fwww.faz.net%2Faktuell%2Fwirtschaft%2Fmenschen-wirtschaft%2Fchancengerechtigkeit-die-neue-klassengesellschaft-12204524.html (29.05.2021) •https://www.fes.de/e/chancengerechtigkeit-in-deutschland (29.05.2021)

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